Mit Marodeur legen KARG ihr inzwischen neuntes Studioalbum vor. Seit der ersten Veröffentlichung sind 17 Jahre vergangen, beinahe zwei Jahrzehnte seit der Gründung. Die Zeit vergeht – doch das Erstaunliche: KARG klingen auch heute noch so frisch und wirkungsvoll wie eh und je. Kaum eine Band vertont inneren Aufruhr so eindringlich wie KARG. Marodeur ist keine Musik zum Hören – es ist Musik zum Fühlen und zum Erinnern.
„Marodeur“ ist das erste Album, das als vollständiges Bandprojekt entstand
Gleich der Einstieg mit „Schnee ist das Blut der Geister“ zeigt, wohin die Reise geht: Zarte Gitarrenlinien weben sich langsam in die melancholische Klanglandschaft, in jenem Stil, der KARG längst unverkennbar gemacht hat. Die Kontraste setzen mit den einsetzenden Schreien ein – bedrohlich, verstörend, eindringlich. Wenn das Doublebass-Gewitter losbricht, kulminiert die Spannung, ehe ein Piano-Motiv dem Ganzen eine noch tiefere Dramatik verleiht. Ein komplexes Stück, das exemplarisch die enorme Klangbreite der Band widerspiegelt. Die düstere Lyrik entwirft ein von schwarzem Schnee bedecktes Ödland – Sinnbild für den ewigen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt. Eine perfekte Einleitung – sowohl in die musikalische als auch in die emotionale Tiefe, die Michael J.J. Kogler seit jeher beschäftigt.
Erstmals in der Bandgeschichte entstand ein KARG-Album als gemeinsames Werk aller fünf Mitglieder. Während zuvor sämtliche Kompositionen und Aufnahmen auf den Schultern von J.J. alias Michael Kogler ruhten – der Name prangte stets allein auf dem Cover – wurde Marodeur kollektiv erarbeitet und eingespielt. Die Instrumente, einst von wechselnden Gastmusikern eingespielt, stammen nun von den festen Bandmitgliedern. Diese neue Zusammenarbeit verleiht dem Album zusätzliche Tiefe und macht es umso spannender.
Mit „Findling“ zieht die Band das Tempo leicht an, die Gitarrenstrukturen werden dichter, rhythmisch variabler. Der Gesang klingt noch zorniger, die Dynamik packender als zuvor. Paul Färber (u.a. Nekrodeus, Ellende – live, Harakiri for the Sky – live, ex-Norikum) verleiht dem Stück mit seinem druckvollen Drumming eine aggressive Schlagseite. Inmitten der musikalischen Wucht erzählt der Text von einem ruhelosen Leben in Melancholie – und davon, wie eine Liebe, stärker als der Tod, letztlich zur Erlösung führen kann.
Hypnotische Klangwelten, filmische Sprachfetzen und Michaels Schreie
„Yūgen“ wirkt ruhiger, fast elegisch. Eine hypnotische Stimmung legt sich über das Stück, verstärkt durch cineastische Sprachsamples, die der Musik eine bedrückende Dramatik verleihen. Michaels markante Schreie brechen durch diese melancholische Kulisse und werden dabei von kaum wahrnehmbaren Zweitstimmen ergänzt, die der Komposition zusätzliche Tiefe verleihen. Eine introspektive Nummer, durchzogen von Heimweh und Sehnsucht – der Wunsch, nach langer Zeit in der Fremde wieder heimzukehren und willkommen zu sein.
KARG wurde 2006 als Solo-Projekt von Michael J.J. Kogler ins Leben gerufen. Die sensible Klangsprache im Wechselspiel mit seinen eruptiven Vocals machten das Projekt rasch zu einer der markantesten Stimmen im Spannungsfeld aus Post-Metal, Post-Black Metal und atmosphärischem Black Metal. Ein Genre lässt sich schwer festlegen – der Sound ist längst einzigartig geworden. Unter wechselnden Pseudonymen – ob J.J., V. Wahntraum oder inzwischen unter Klarnamen – treibt Michael Kogler das Projekt mit beeindruckender Hingabe voran und hat es Schritt für Schritt in eine feste Bandform geführt: erst auf der Bühne, nun auch im Studio.
KARGs Musik trifft tief – weil sie echt ist
Mit „Verbrannte Brücken“ erreicht die Schwermut ihren emotionalen Höhepunkt. Ein mitreißendes Gitarrenriff verdoppelt die Melodielinie, die Stimmung bleibt von tiefer Traurigkeit durchzogen. Tempowechsel und härtere Passagen sorgen für zusätzliche Spannung. Ein Violineneinsatz – eingespielt von Klara Bachmair (Firtan, Vinsta) – verstärkt die Atmosphäre der Trostlosigkeit. Der Text blickt zurück – auf Schmerz, auf geteilte Erinnerungen, auf unerfüllte Hoffnungen. Die Musik überträgt diese Emotionen spürbar – eine Umwandlung von Gefühl in Klang, vielleicht an keiner Stelle so intensiv wie hier.
„Annapurna“ beginnt erneut mit einer Violine, gefolgt von schnellen Drums und einem deutlich härteren Riff. Es ist eines der brachialsten Stücke des Albums. Wieder taucht ein rezitierter Part auf – im Wechselspiel mit den Schreien entsteht ein packender Kontrast. Das Stück erinnert stark an frühere Werke: dieselbe Leidenschaft, dieselbe Wut. Ein klares Highlight. Das Gedicht handelt von Versöhnung, von der Suche nach Sinn im Leben. Es beschreibt die Vergänglichkeit der Zeit und den Wunsch nach Nähe in einer von Schmerz geprägten Welt.
Eine eindrucksvolle Liveband: KARG schaffen es, ihr Publikum mit einem vielschichtigen Sound zu fesseln. Die drei Gitarristen – Daniel Lang, Georg Traschwandtner (ex-Soulful) und Christopher Pucher – spielen jeweils unterschiedliche melodische Linien, die sich zu einer sphärischen Klanglandschaft verweben. Wer KARGs Musik schätzt, sollte sich ihre Konzerte nicht entgehen lassen – live eröffnet sich eine neue Dimension ihres Schaffens.
Dynamik, Wut, Melancholie und eindringliche Schreie
„Reminiszenzen einer Jugend“ beginnt noch druckvoller als die vorherigen Songs. Die Melancholie und Traurigkeit, die den ersten Teil des Albums durchzogen, schlagen hier um in Energie, Dynamik und Zorn – ein gelungener dramaturgischer Aufbau. Die Gitarren klingen aggressiver, wiederholte Riffs erzeugen ein Gefühl von Beklemmung und innerem Widerstand. Textlich geht es um vergängliche Freundschaften und Erinnerungen. Der Schmerz des Verlusts wird anerkannt, doch findet das lyrische Ich Trost in der Poesie – sie vermag es, die Essenz der Jugend einzufangen, die auf den Feldern und Straßen der Kindheit weiterlebt. All dies spiegelt sich in Michaels wütenden, gequälten Schreien wider. Besonders hervorzuheben ist der Mittelteil: Eine melancholisch-getragene Passage trifft auf verzerrte Riffs, ein intensives Wechselspiel aus Zärtlichkeit und Wut – eine komplexe Komposition, die Gegensätze in Einklang bringt.
Die Produktion ist hervorragend – alle Instrumente sind klar im Mix erkennbar. Wie bei dieser Musik zu erwarten, dominieren die Leadgitarren und die markanten Vocals. Gerade dieses Gleichgewicht betont den Kontrast, der KARGs Musik so besonders macht. Auch die dezenten Soundeffekte und cineastischen Elemente fügen sich nahtlos in das Gesamtbild ein. Inhaltlich widmen sich KARGs Texte traditionell den melancholischen Seiten des Lebens – zerbrochene Beziehungen, verlorene Liebe, Entfremdung, Drogenmissbrauch, suizidale Gedanken und Depressionen. Ihre Lyrik ist ebenso bedeutend wie die Musik selbst und wird in jenem Dialekt verfasst, der rund um das Tennengebirge gesprochen wird – dort, wo Frontmann Michael J.J. Kogler aufgewachsen ist.
Komplexe Stücke, die Schmerz und Leid in sensible Musik verwandeln
„Kimm“ beginnt mit zarten Akkorden – die nostalgische Grundstimmung kehrt zurück, wird jedoch bald von schnellen Tempos und vielschichtigen Gitarrenstrukturen abgelöst. Dazu Michaels furiose Schreie und komplexe, melodisch verspielte Gitarrensolos. Die Lyrics sind philosophisch geprägt und reflektieren vergangene Ereignisse. Es geht um Vergebung, um das Eingeständnis unausweichlicher Entscheidungen und die Frage nach dem eigenen Vermächtnis – ob man in Erinnerung bleiben wird. „Kimm“ ist ein epischer Höhepunkt des Albums.
„Anemoia“ überrascht mit einem Bass-Solo, gespielt von Michael – ein ungewöhnlicher, aber äußerst gelungener Einstieg. Der Song thematisiert zerbrochene Leben, vergangene Beziehungen und den Schmerz unerfüllter Träume. Einsamkeit wird in Klang übersetzt. Wehklagende Gitarren, gequälte Schreie, hypnotische Riffs und eine ausgefeilte Orchestrierung lassen Marodeur mit Nachdruck ausklingen.
Ein tiefgründiges, vielschichtiges Album mit zahlreichen Facetten – ein Werk, das atmosphärische Gegensätze vereint und ineinander überführt. Die Fähigkeit, Schmerz und Zerrissenheit in sensible Musik zu verwandeln, dabei jedoch eine spürbare Wut beizubehalten, ist beeindruckend.
Mit „Marodeur“ festigt KARG seinen Platz in der Szene und zeigt eine neue Reife als Band.
So schwer KARGs Musik einem bestimmten Genre zuzuordnen ist, so schwer fällt es auch, passende Worte dafür zu finden. Hypnotisch, melancholisch, atmosphärisch, kontrastreich – das wären einige. Die Selbstbeschreibung der Band: „Eine wütende, hysterische Mischung aus Atmospheric Black Metal und einer gewaltigen Ladung Post Rock, mit Einflüssen aus Grunge, Shoegaze und Post Punk.“
Als eine der bekanntesten „lokalen“ Bands wird KARG mit Marodeur sicher viele Reaktionen hervorrufen – positive wie negative. Doch an diesem Album ist nichts Negatives zu finden. In ihrer Nische – gemeinsam mit anderen Projekten von Michael, allen voran Harakiri for the Sky – hat KARG seinen festen Platz. Und Marodeur zementiert diesen.
Ein äußerst komplexes Album – und, was noch wichtiger ist: eine komplexe Erfahrung. Alles, was KARG bislang ausmachte, ist hier enthalten – und noch mehr. Die Band hat eine neue Reife erreicht und zeigt, dass sie nun als echtes Kollektiv funktioniert. Der kreative Input der anderen Mitglieder hat dieses Werk maßgeblich bereichert.
Fazit: Dissonante Schönheit, hypnotischer Zorn – Marodeur ist KARGs düster-schöne Klanggewalt aus Schmerz, Tiefe und Sturm.
Tracklist
01. Schnee ist das Blut der Geister
02. Findling
03. Yūgen
04. Verbrannte Brücken
05. Annapurna
06. Reminiszenzen einer Jugend
07. Kimm
08. Anemoia
Besetzung
Michael J.J. Kogler – Vocals, Lyrics, Bass
Daniel Lang – Guitars, Vocals
Paul Färber – Drums
Georg Traschwandtner – Guitars
Christopher Pucher – Guitars, Vocals
Gastauftritte:
Klara Bachmair – Violin
Perchta – Guest Vocals on “Schnee ist das Blut der Geister”
Marko Kolac – Guest Vocals on “Kimm”
Michael Eder – Piano on “Schnee ist das Blut der Geister”